Naturheilkunde und Integrative Medizin bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen

Von Prof. Dr. Andreas Michalsen, Charité, Immanuel-Krankenhaus Berlin

 

In Deutschland ist das Fachgebiet „Naturheilverfahren“ eine seit Jahrzehnten von den Ärztekammern geregelte, durch Weiterbildung erworbene ärztliche Zusatzbezeichnung, neben weiteren Zusatzbezeichnungen wie „Akupunktur“, „Manuelle Medizin“, „Physikalische Therapie“ und „Balneologie“. Dabei bilden die „klassischen“ Naturheilver-fahren die Basis dieses Fachgebiets.
Die klassischen Naturheilverfahren sind weitgehend wissenschaftlich untermauert und etabliert, spielen aber in der heutigen Inneren Medizin und den Honorierungssystemen nur eine nachgeordnete Rolle. Ärzte für Naturheilverfahren sind immer zunächst schulmedizinische Fachärzte, die Naturheilkunde komplementär (ergänzend) einsetzen.
Der Begriff Alternativmedizin sollte entsprechend vermieden werden.

Im Kontext der Behandlung chronischer Erkrankungen beinhaltet „Integrative Medizin“ die synergistische1 Kombination der drei Therapiebereiche: konventionelle Medizin, seriöse/evidenzbasierte2 Naturheilkunde, strukturierte gesundheitsfördernde Lebens-stilmodifikation und Mind-Body-Medizin (Geist-Körper-Medizin) , Bild 1.

Methodenspektrum und Wirkmechanismen der klassischen Naturheilverfahren

Eine Übersicht über die wichtigsten Naturheilverfahren gibt Tabelle 1. Hierbei ist von Bedeutung, dass Naturheilkunde einen individualisierten Therapiezugang wählt und folglich in der praktischen Ausführung die Aspekte der Konstitution, der individuellen Verträglichkeit und der lebensgeschichtlichen Situation berücksichtigt. Darüber hinaus wird die auch in der evidenzbasierten Medizin geforderte Patientenorientierung4 nachdrücklich berücksichtigt, insbesondere auch, um unspezifische (früher „Placeboeffekt“ genannte) Wirkungen zu maximieren.
Am Beispiel der Ernährungstherapie beinhaltet dies, dass neben allgemein gesunden Kostformen (mediterrane Kost) auch Spezialkostformen und Heilfasten therapeutisch mit eingesetzt werden. Darüber hinaus spielen Aspekte wie Mikrobiom5, Konstitution und Wärme-/Kälteempfindlichkeit sowie die Bereitschaft zu einer Lebensstil-Modifikation eine wesentliche Rolle. Z.B. werden bei der Bewegungstherapie neben den bekannten Bewegungsformen auch mehr meditative, „achtsame“ Bewegungsformen wie Yoga, Tai-Chi6 oder Feldenkrais7 eingesetzt.

Tabelle 1: Systematik der Naturheilkunde

I. Klassische Naturheilverfahren

· Hydrotherapie, Balneologie, Thermotherapie, Heliotherapie

· Ernährung und therapeutisches Fasten

· Bewegungstherapie, Physiotherapie, Massage

· Phytotherapie und Nahrungsergänzung mit Naturstoffen

· Ordnungstherapie und Mind-Body Medizin

II. Naturheilverfahren im erweiterten Sinne

· „Ausleitende Verfahren“ (Blutegeltherapie, Schröpfen u. a.)

· Neuraltherapie, therapeutische Lokalanästhesie

· Manuelle Medizin, Reflextherapie

· Mikrobiologische Therapie, Probiotika

III. Traditionelle Verfahren – „Whole Medical Systems“ (Auswahl)

· Traditionelle Indische Medizin (TIM), Ayurveda

· Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), Kampo-Medizin

· Anthroposophische Medizin

 

 

 

 

 

 

 

Bei der Hydrotherapie8 und Bewegungstherapie spielt das Reiz-Reaktions-Prinzip und die damit notwendige genaue Reaktionsbeobachtung eine zentrale Rolle. Z.B. werden warme oder kühlende Anwendungen nicht primär je nach Diagnose eingesetzt, sondern die Reizdosierung wird individualisiert, um eine optimale reaktive Wiedererwärmung und Gewebedurchdringung zu erzielen.
In der Mind-Body-Medizin werden Aspekte der Krankheitsbewältigung, der struktu-rierten Stressreduktion, der Achtsamkeit und Selbstwirksamkeit in Verbindung mit Span-nungsregulationstechniken (Meditation, Autogenes Training, Tai-Chi6, Hypnose, Biofeedback, Visualisation und anderes) in einem gruppenzentrierten Programmansatz zusammengeführt. Die Mind-Body-Medizin konzentriert sich auf das Zusammenspiel von Geist, Psyche, Körper und Verhalten und darauf, wie emotionale, mentale, soziale und spirituelle Faktoren direkten Einfluss auf die Gesundheit nehmen. Wesentliche Methoden der Mind-Body-Medizin sind Entspannungstechniken wie Imagination, Meditation, Yoga oder Tai-Chi6.

Die Programme der Mind-Body-Medizin haben wissenschaftlich insbesondere bei Herzerkrankungen, in der Tumortherapie und bei Schmerzerkrankungen ihren Wert erwiesen. Die Mind-Body-Medizin ist bei rheumatologischen Krankheiten vor allem dann vielversprechend, wenn Patienten bei der Beschreibung ihrer Vorgeschichte eine Schubauslösung oder Verschlechterung der Erkrankung infolge von Stress oder psychosozialer Belastung bzw. ungünstigem Lebensstil angeben. Wissenschaftlich sind die zugrundeliegenden Mechanismen im Gebiet der Psycho-Neuro-Immunologie seit Langem aufgezeigt9.
Je nach Befund und Ansprechen auf die konventionelle und klassisch-naturheilkundliche Therapie kommen auch die erweiterten Naturheilverfahren zum Einsatz. Dazu gehört traditionell auch die mikrobiologische Therapie. Wissenschaftlich derzeit von großem Interesse ist die potentielle Immun-Modulation durch gezielte Beeinflussung des Mikrobioms5 durch Pro- und Präbiotika10 . Probiotische Präparate haben zunächst in die Behandlung chronisch- entzündlicher Darmerkrankungen Eingang gefunden. Zunehmend ergeben sich aber auch Hinweise auf die potentielle Wirksamkeit bei anderen immunologisch vermittelten Erkrankungen wie rheumatoide Arthritis oder Allergien.

Naturheilverfahren im erweiterten Sinne

Kaum wissenschaftliche Daten gibt es hingegen zu der insbesondere in der ambulanten Versorgung weit verbreiteten Neuraltherapie, während die „ausleitenden“ Verfahren (u. a. Blutegel, Schröpfen) insbesondere für Arthrosen gut überprüft sind.
Im letzten Jahrzehnt wurde das Gebiet der Naturheilkunde stark durch außereuropä-ische traditionelle Medizinsysteme geprägt. Neben der Akupunktur wächst derzeit die Bedeutung weiterer Elemente der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM)11 wie z.B. Kräuter- und Ernährungstherapie und Bewegungs-/Physiotherapie mittels Tai-Chi6, Qigong12, Tuina und Guasha.
Ein weiteres ganzheitliches diagnostisches und therapeutisches Heilsystem ist die tradi-tionelle südasiatische Ayurveda-Medizin. Ayurveda ist in Indien, Sri Lanka und Nepal der konventionellen Medizin rechtlich gleichgestellt. Ayurvedische Behandlungsstrategien bei rheumatischen Erkrankungen schließen Elemente der Ernährungsmedizin, Lebensstilberatung, hochdifferenzierte äußere Anwendungen (Massage, Physiotherapie, Manualtherapie), Phytotherapie13, Yoga und Meditation sowie sogenannte ausleitende Verfahren (z. B. Blutegel, Fasten) ein.
Weitere traditionelle Medizinsysteme sind in anderen Regionen und Nationen etabliert, z.B. die tibetische Medizin, die japanische Kampo-Medizin, die indische Siddha-Medi-zin und die arabische Medizin. Diese haben aber bislang in Europa nicht die Bedeutung und Verbreitung erlangt wie TCM und Ayurveda. Im Folgenden werden bevorzugte Naturheilverfahren bei der rheumatoiden Arthritis und den Spondyloarthritiden 14 dargestellt.

Fasten Ein Kernmodul der naturheilkundlichen Therapie bildet das therapeutisch modifizierte Fasten oder Heilfasten. Zur Erzielung einer schmerzlindernden und entzündungshemmenden Wirkung ist eine Fastendauer von 7–10 Tagen notwendig. Bei anschließender Ernährungsumstellung zeigte sich in skandinavischen Studien zur rheumatoiden Arthritis eine nachhaltige Beschwerdelinderung über ein Jahr.
Im Zentrum für Naturheilkunde am Immanuel-Krankenhaus Berlin wird die Fasten-Therapie bei etwa 70% aller Patienten mit rheumatoider Arthritis oder Spondyloarthritiden durchgeführt und zeigt sich in der Anwendung praktikabel. Viele Patienten wiederholen die Fastentherapie in Abständen von 6–12 Monaten, um den Therapieeffekt zu reproduzieren. Kontraindikationen gegen das Fasten wie Essstörungen oder Mangelernährung sind zu beachten.
Neben der bestehenden klinischen Evidenz2 durch Studien sowie der Erfahrung in spezialisierten Fastenkliniken konnten zahlreiche Grundlagenstudien die wesentlichen Mechanismen der antientzündlichen Wirkung des Fastens klären.

Nahrungsergänzungen

Im Bereich der Nahrungsergänzung werden in der Naturheilkunde häufig Curcuma (Gelbwurz)15, Ingwer16, Grüner Tee, Leinsamen und Walnüsse17 (Alpha-Linolensäure, pflanzliche Omega-3-Fettsäure) sowie Granatapfel empfohlen.
Für diese Nahrungsergänzungen gibt es jeweils vielversprechende Untersuchungsergebnisse, allerdings noch keine ausreichende Evidenz2 aus Studien. Viele Patienten mit rheumatischen Erkrankungen nehmen zudem oftmals teure Enzympräparate ein. Da keine klare Evidenz zu dieser Therapieform bei rheumatischen Erkrankungen vorliegt und zudem erhebliche Kosten entstehen, kann derzeit nicht zur Enzymtherapie geraten werden.

Physikalische Therapie/ Hydrotherapie

Einen großen, aber weitgehend empirisch gestützten Stellenwert hat die Kneippsche Hydrotherapie. Zum Einsatz kommen kalte und wechselwarme Güsse, Teilbäder und Wickel sowie bei nicht akuter Entzündung Sauna. Lokale Kühlung kann über Quarkwickel und Essigumschläge bewirkt werden. In der Wärmetherapie werden häufig Ingwer, Bienenwachs und Bockshornklee als Wickel oder Umschläge eingesetzt. In diesen Therapien können Patienten und ihre Angehörigen auch für die spätere Selbstbehandlung geschult werden und damit eine höhere Nachhaltigkeit erzielt werden. Mit gutem Erfolg wird in spezialisierten Zentren auch die Ganzkörper-Kältetherapie (–110°C) eingesetzt. In der Regel kann dadurch eine rasche Schmerzreduktion erzielt werden und es eröffnen sich Fenster für intensivierte Physiotherapie. Die Studienergebnisse stammen allerdings zumeist aus nicht zufallskontrollierten Studien.

Traditionelle Chinesische Medizin Bei entzündlich-rheumatischen Erkran-kungen gibt es keine klare Evidenz für den Nutzen der Akupunktur, jedoch kann diese als unterstützende Schmerztherapie im Bedarfsfall angewendet werden. Im Bereich der chinesischen Kräutertherapie ist in China der Einsatz von Vielstoffgemischen üblich. Allerdings fehlt auch hier Evidenz aus hochwertigen Studien. Da auch die Wechselwirkung mit krankheitsmodifizierenden Medikamenten (Sulfasalazin, Methotrexat) unklar ist, sollte die chinesische Kräutertherapie nicht oder nur mit sorgfältiger Überwachung parallel zu solchen Medikamenten zum Einsatz kommen.
Mehrere hochrangig publizierte Studien konnten für die aus der chinesischen Medizin stammende Behandlung mit Tripterygium Wilfordii Hook (Dreiflügelfrucht) eine sehr gute Wirksamkeit bei rheumatoider Arthritis und Spondyloarthritiden aufzeigen. Jedoch ist das Nebenwirkungsprofil dieser Heilpflanze erheblich. Pharmakologisch wird versucht, die Substanz nebenwirkungsärmer zu modifizieren. Derzeit raten wir aber von einem Einsatz ab.

Mind-Body-Medizin

Einen großen Stellenwert in der Behandlung schwerer chronischer Erkrankungen hat in der Naturheilkunde die Mind-Body-Medizin. Während ein Wirkungsnachweis auf den Krankheitsverlauf bislang nicht in Form von zufallskontrollierten Studien vorliegt, können vor allem die Elemente der kognitiven Umstrukturierung, der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion sowie der meditativen und körperorientierten Entspannungstechniken die psychische und physische Lebensqualität verbessern. Sekundär kann die Mind-Body-Medizin durch ihr ressourcenorientiertes und motivationsförderndes Vorgehen dazu beitragen, dass sinnvolle Empfehlungen zur Ernährungs- und Bewegungstherapie nachhaltiger befolgt werden

Besonderheiten beim Morbus Bechterew

Beim Morbus Bechterew wird mit gutem Erfolg die Ganzkörper-Überwärmung mittels Infrarot-A eingesetzt . Ebenfalls häufig gute Behandlungsergebnisse werden mit Bindegewebsmassage und faszienbetonten20 Techniken wie reflektorischer Atemtherapie und Hatha Yoga erzielt.

1) zusammenwirkend, sich gegenseitig verstärkend
2) Evidenz = Offensichtlichkeit, sichere Erkenntnis (meist im Sinne von nachgewiesener Nützlichkeit vorzugsweise auf Grund von Studien)
3) MBJ Nr. 140 S. 4–5.
4) MBJ Nr. 139 S. 4–6
5) Besiedelung des Darms, Darmflora, siehe MBJ Nr. 141 S. 10, Nr. 150 S. 4, Nr. 151 S. 11–13, Nr. 155 S. 24–25
6) MBJ Nr. 108 S. 26, Nr. 115 S. 25–26, Nr. 130 S. 21–23, Nr. 141 S. 28
7) MBJ Nr. 154 S. 29–30 und S. 41
8) therapeutische Wasser-Anwendungen
9) Ein gutes Beispiel für die Wechselwirkung zwischen Psyche, Nerven- und Immunsystem sind die Erfolge der Neurokognitiven Therapie als einziger Therapieform, durch die Morbus Bechterew heilbar ist (und dies seit über 25 Jahren), Anmerkung der Redaktion.
10) Probiotika enthalten Darmbakterien zur Wieder-herstellung eines gesunden Mikrobioms. Präbiotika unterstützen den Aufbau und Erhalt eines gesunden Mikrobioms. Siehe MBJ Nr. 126 S. 8, Nr. 143 S. 8, Nr. 151 S. 12
11) MBJ Nr. 96 S. 24–25, Nr. 108 S. 25–26
12) MBJ Nr. 104 S. 46, Nr. 107 S. 20–22, Nr. 108 S. 26
13) Behandlung mit Pflanzen bzw. deren Extrakten
14) entzündliche Wirbelsäulenerkrankungen, zu denen auch der Morbus Bechterew gehört
15) MBJ Nr. 136 S. 16–18
16) MBJ Nr. 143 S. 35–36
17) MBJ Nr. 126 S. 20–22
18) MBJ Nr. 146 S. 23–25  
19) MBJ Nr. 118 S. 12–18, Nr. 125 S. 6–7, Nr. 139 S. 12–14, sowie S. 20 in diesem Heft
20) Faszien sind die hauchzarten Einhüllungen von Muskeln, Sehnen und Organen, siehe Seiten 7 und 30 in diesem Heft.  

Anschrift des Verfassers:
Charité / Immanuel-Krankenhaus Berlin, Naturheilkunde und Integrative Medizin Königstr. 63, 14109 Berlin

Quelle: Gekürzte patientengemäße Überarbeitung des in der Zeitschrift Aktuelle Rheumatologie Band 40 (2015) S. 454–460 erschienenen Artikels „Naturheilkunde und Komplementärmedizin bei rheumatischen Erkrankungen“ (dort mit ausführlichem Literaturverzeichnis)

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