Überdiagnostik und Übertherapie in der Rheumatologie: Mehr Zurückhaltung ist angebracht!
Von Prof. Dr. Robert Landewé, Amsterdam, bis 2017 Präsident der
Assessment of SpondyloArthritis international Society (ASAS)
Die Bezeichnung “Überdiagnostik” stammt aus der Krebsvorsorge und beschreibt eine unbeabsichtigte Nebenwirkung von Vorsorge-Untersuchungen. Gemeint sind dadurch aufgedeckte Krebserkrankungen, die unentdeckt auf Grund ihres trägen Charakters nie zu Gesundheitsproblemen führen würden. Überdiagnostik führt zur Überbehandlung (unnötigen Maßnahmen), psychischem Stress und enormen Kosten. Während es überall in der Medizin Überdiagnostik und Überbehandlung gibt, wird sie wissenschaftlich kaum beachtet. Dr. Gilbert WELCH bezeichnete in seinem Buch „Less Medicine – More Health“ Überdiagnostik und Überbehandlung als Folge ärztlicher Einstellungen: „Ärzte versuchen, Risiken zu verringern, ohne zu beachten, wie gering oder unwahrscheinlich der Nutzen ist. Ärzte versuchen, ein Problem zu „lösen“, statt sich mit ihm auseinanderzusetzen. Sie handeln lieber sofort, statt auf mehr Information zu warten. Und sie bevorzugen neue Medikamente gegenüber älteren.
Überdiagnostik und Überbehandlung in der Rheumatologie
In Bezug auf entzündlich-rheumatische Krankheiten wie rheumatoide Arthritis, Psoriasis-Arthritis und Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew) gleicht die Beschreibung der Überdiagnostik und Überbehandlung einem leeren weißen Blatt. Das ist verständlich: Nach langer Vorgeschichte mit therapeutischem Nihilismus hat sich der Schwerpunkt der Rheumatologie von der Sorge um die Krankheitsfolgen in jüngster Zeit verschoben auf ein aktives Suchen nach der unerkannten Krankheit, von einer Abwarten-und-Zuschauen-Politik zur Frühdiagnose und Frühbehandlung mit stark wirksamen neuen Medikamenten. Heute scheint sich kein Rheumatologe Sorgen wegen einer Überdiagnostik und Überbehandlung zu machen, denn zum ersten Mal in der Geschichte haben wir heute sehr wirksame Medikamente, und weitere sind im Kommen. Kritischen Fragen zur Frühdiagnose und -Behandlung wird entgegnet: „Früh“ bedeutet „bevor irreversible Schäden eingetreten sind“, und ist das nicht zu Jedermann’s Vorteil? Bei Krebsleiden ist eine frühe Entdeckung intuitiv mit besserer Heilungsaussicht verbunden, aber dieser Glaube wurde in jüngster Vergangenheit erschüttert. Manchen Patienten hat eine frühe Entdeckung tatsächlich das Leben gerettet, aber bei anderen hat eine frühe Krebsdiagnose eine unnötige Leidenskette ausgelöst: Sie erhielten eine belastende Diagnose, obwohl dieser Krebs ihr Leben nie beeinträchtigt hätte, wenn er unerkannt geblieben wäre. Bei der Krebsvorsorge ist dieser Kollateral-Schaden immer im Auge zu behalten. Entzündlich-rheumatische Krankheiten unterscheiden sich in vieler Hinsicht von Krebsleiden, und eine Überdiagnostik und Überbehandlung nimmt andere Formen an. Aber es gibt auch Ähnlichkeiten. Um die aggressive Art und Weise deutlich zu machen, wie heute entzündliche Krankheiten gesucht und behandelt werden, stelle ich sechs Paradigmen (Beispiele, Muster) unserer derzeitigen Sichtweise zur Diskussion. Diese sechs Diskussionspunkte geben meine persönliche Meinung wieder und sind (noch) nicht durch wissenschaftliche Ergebnisse untermauert. Entsprechende Studien sind dringend nötig.
Paradigma 1: Frühdiagnose
Die Diagnose einer entzündlich-rheumatischen Krankheit ist die Spezialität qualifizierter Rheumatologen. Es gibt keine Alternative. Objektive Tests können das Urteil eines Rheumatologen nicht ersetzen. Eine Frühdiagnose stellt deshalb hohe Anforderungen an den praktizierenden Rheumatologen. Es wurde eine Reihe von Initiativen unternommen, um Rheumatologen von der Bedeutung einer frühen Diagnose zu überzeugen: Überweisungskriterien für Allgemeinärzte, neue raffinierte Bildgebungsverfahren, vereinfachte Diagnosetests und vor allem eine gründliche Überarbeitung der Klassifikationskriterien. Die neuen Klassifikationskriterien sollen die Frühdiagnose erleichtern, obwohl Klassifikation und Diagnose nicht durcheinandergebracht werden dürfen. Diese Initiativen können eine zweischneidige Wirkung haben: Schwerwiegende Fälle mögen dem Rheumatologen schneller zugeführt werden, aber auch milde Fälle mit unklaren Symptomen und günstigen Verlaufsaussichten kommen zum Spezialisten. Neue Diagnoseverfahren (z. B. Ultraschall) können zu einem beträchtlichen Anstieg der Häufigkeit dieser Krankheiten beitragen. Neue Klassifikationskriterien, die eine größere Zahl von Patienten einschließen, werden irrtümlich zur Diagnose missbraucht und erweitern das Spektrum der Krankheiten zusätzlich. Das Ergebnis ist mehr „Grauzonenmedizin“, in der milde Verläufe früher diagnostiziert und einer intensiven Behandlung zugeführt werden. Dabei schießen wir noch über das Ziel der Frühdiagnose hinaus. Neuere Forschungsanstrengungen zielen darauf, Risikogruppen mit einer Neigung zu einer entzündlichen Krankheit zu identifizieren, um sie vorsorglich zu behandeln. Das bedeutet, Krankheitsrisiken mit vorliegenden Krankheiten zu verwechseln und so aus Gesunden Patienten zu machen und entsprechende Kollateralschäden zu verursachen.
Paradigma 2: Intensive Behandlung
Zweifellos bedeutet die Entdeckung und Einführung vieler neuer Behandlungsmöglichkeiten in den vergangenen zwei Dekaden einen gewaltigen Fortschritt. Die intensive (medikamentöse) Behandlung hat im Vergleich zu den Behandlungsergebnissen vor 1990 den Verlauf entzündlich-rheumatischer Krankheiten erheblich verbessert. Die Frühdiagnose und die intensive Therapie gingen dabei Hand in Hand. Die bessere Wirksamkeit neuer Medikamente wurde durch medizinische Studien bestätigt. Studienergebnisse geben aber nur Mittelwerte der untersuchten Gruppe wieder und sagen nichts darüber aus, ob die Verbesserung nur einem Teil der Patienten zugutekommt. Für die Mehrheit der Patienten könnte die bisherige Therapie ebenso gut geeignet sein. Die Überbehandlung vieler Patienten wird offensichtlich von der Medizinergemeinschaft weitgehend akzeptiert: „Manche brauchen es – manche nicht.“ Das wäre akzeptabel, wenn es keine Alternativen gäbe. Der modernen Rheumatologie stehen aber sehr viele wirksame Medikamente zur Verfügung. Leider ist der Nutzen für das breite Krankheitsspektrum kaum untersucht worden. Wir übertragen also die für schwere Verläufe gültigen Studienergebnisse auf mildere Fälle und bilden uns ein, damit Gutes zu tun.
Paradigma 3: Remission (Beschwerdefreiheit)
Die Annahme, dass eine Remission (Beschwerdefreiheit) das beste Ergebnis für Patient und Arzt ist, ist überzeugend, führt aber in vielen Fällen zur Überbehandlung. Sie basiert auf der Erkenntnis: Je geringer die momentane Krankheitsaktivität, desto besser der langfristige Krankheitsverlauf. Zugegeben: Aus der Perspektive eines Patienten mit hoher Krankheitsaktivität mag dies korrekt sein. Aber für einen Patienten mit bereits niedriger Krankheitsaktivität kann das Streben nach absoluter Beschwerdefreiheit mehr schaden als nützen. Es ist fraglich, ob der Unterschied zwischen absolut keinem und geringem Fortschreiten der knöchernen Verände-rungen die Risiken einer aggressiven Therapie aufwiegt.
Paradigma 4: Verlaufsprognose und Risiken
Viele Veröffentlichungen befassen sich mit der Prognose des Krankheitsverlaufs und der Voraussage des Therapie-Ansprechens. Die Ergebnisse waren oft nicht reproduzierbar, und wenn sie reproduzierbar waren, war die Aussage vernachlässigbar und medizinisch nicht relevant. Unglücklicherweise wissen viele Forscher nicht, wie Vorhersagen und Risiken zu interpretieren sind und können ihren Wert nicht abschätzen. Diagnosen und Behandlungen auf Grund von unsicheren Prognosen führen unweigerlich bei vielen Patienten zur Überdiagnose und Überbehandlung.
Paradigma 5: Evidenzbasierte Rheumatologie
Hauptquelle für “evidenz-basierte Medizin“ sind Mittel-werte aus Studien. Große Fortschritte wurden dadurch erzielt, dass auf Grund einer solchen Evidenz Leitlinien und Empfehlungen für das ärztliche Handeln entwickelt wurden. Systematische Literatur-Übersichten und Experten-Urteile bilden die Grundlage für Leitlinien, die den gegenwärtigen Stand der ärztlichen Kunst wiedergeben und Ärzten helfen, Therapie-Entscheidungen für den einzelnen Patienten zu treffen. Leitlinien sind zweifellos wertvoll, werden aber nicht immer richtig verstanden und angewandt. Leitlinien geben die Übereinkunft medizinischer Experten bezüglich des in der Literatur gesammelten Wissens wieder und beschreiben das beste Vorgehen, unabhängig von der Situation des Patienten und vom Gesundheitssystem des jeweiligen Landes. Leitlinien spiegeln die vorherrschende Tendenz in der Medizin wieder, z. B. eine frühe Diagnose und intensive Behandlung mit dem Ziel der Beschwerdefreiheit. Manchmal werden sie von Ärzten zu streng befolgt, ohne die Bedürfnisse des individuellen Patienten zu beachten, und führen so zur Überdiagnostik und Überbehandlung.
Paradigma 6: Personalisierte Medizin
Die „personalisierte Medizin“ unterstellt, dass Patienten in genetisch unterschiedliche Untergruppen unterteilt werden können, die unterschiedlich zu behandeln sind. „Personalisierte Medizin“ sieht nach technologischer Innovation aus, führt aber nicht zu einem Mehrwert für die Patienten, sondern zur Überdiagnostik, Überbehandlung und Kostenexplosion. Der Behandlungserfolg hängt weniger von genetischen Faktoren ab als vielmehr von Begleiterkrankungen, psychosozialen Faktoren und Überzeugungen. In anderen Worten: Es ist unwahrscheinlich, das personalisierte Medizin der Heilige Gral der Rheumatologie wird. Sie verursacht mehr unnötige Medizin, als wir denken.
Schlussfolgerungen
Alle derzeitigen Tendenzen in der Medizin bergen das Risiko einer Überdiagnostik und Überbehandlung. Ich leugne nicht die immensen Fortschritte in den vergangenen Jahren. Aber eine „frühere“ Diagnose ist nicht notwendigerweise besser und “mehr” (Behandlung) nicht automatisch wirksamer. Wir müssen lernen, zwischen „Krankheit“ und „Erkrankungsrisiko“ zu unterscheiden. Und wir müssen lernen – ohne auf die Vorteile einer rechtzeitigen intensiven Behandlung zu verzichten –, wie wir den Wert unserer Bemühungen steigern, für unsere Patienten und für die Gesellschaft, welche die Rechnung bezahlen muss. Mehr Zurückhaltung ist angebracht!
Anschrift des Verfassers: Amsterdam Rheumatology and Clinical Immunology Center, Amsterdam and Zuyderland Medical Center, Amsterdam 1105 AZ, Niederlande
Quelle: Patientengemäße Übersetzung eines in der Zeitschrift Annals of the Rheumatic Diseases Band 77 (2018) S. 1394–1396 veröffentlichten Artikels (dort mit ausführlichem Literaturverzeichnis)