
Erfahrungsbericht
Günter Klatte aus Seevetal
Alle ErfahrungsberichteMeine lange „Bechterew-Laufbahn“
In diesem Sommer wurde ich 84 Jahre alt, davon lebe ich bereits 68 Jahre mit dem Bechterew als ständigen Begleiter und penetranten Teilnehmer an meinem Leben bei Tag und bei Nacht. Bei jeder Aktivität oder Ruhepause ist er gegenwärtig, er ist penetrant und lässt sich weder bei Seite legen noch in irgendeiner Weise abschütteln. Jeder Betroffene kennt es.
Bereits als ich 16 Jahre alt war, hat er sich bei mir eingeschlichen, sich zunächst in Form einer akuten Polyarthritis mit starken Ergüssen in einem und etwas später in beiden Kniegelenken sowie gelegentlichen, tiefsitzenden Rückenschmerzen.
Nach vielen Versuchen mit Kniepunktionen, und Bandagen, verschiedenen Spritzen mit Bienengift und anderen Präparaten wurde ich zu einer Kur mit Moorpackungen und Bädern geschickt. Es ergab sich eine Besserung, sodass ich meine bereits begonnene Tischlerlehre erfolgreich abschließen konnte. Nach einem Jahr Tätigkeit als Tischler stellten sich in immer kürzeren Abständen starke tiefsitzende Rückenschmerzen ein.
Bei einem sportlichen Facharzt für Orthopädie wurde ich zunächst mit Chiropraktik gequält was meinen Zustand nur verschlimmerte. Wärmetherapie und Bestrahlungen jedoch brachten kurzzeitige Linderung. Insgesamt kamen die Schmerzschübe in immer kürzeren Abständen zurück und konnten nur mit verschiedenen schmerzstillenden Medikamenten, wie sie im Jahr 1958 verschrieben wurden, gelindert werden.
Im Nov. 1958, ich war gerade 20 Jahre alt, ließ der Orthopäde eine Beckenübersichtsaufnahme anfertigen. Auf diesem Röntgenbild wurde festgestellt, dass eines der beiden dargestellten Iliosacral-Gelenke unregelmäßige Konturen, sogenannte Verwaschungen aufwies. Mit diesem Ergebnis und der Diagnose „Verdacht auf Iliosacral-Tbc“ wies der Orthopäde mich zur Abklärung und weiteren Behandlung in das Allgemeine Krankenhaus Hamburg-Barmbek ein.
Am 26. Nov. 1958 wurde ich in einem ebenerdigen Nebengebäude der eigentlichen Orthopädie, dem s. g. Pavillon 10, in dem überwiegend bereits über viele Monate liegende Langzeitpatienten mit der Diagnose Knochen Tb lagen, aufgenommen. Nun geriet ich dem dort tonangebenden „Halbgott in Weiß“, Chefarzt der Orthopädie, Vater eines etwas später bekannten Schauspielers, in die diagnostischen Fänge. Noch voller Zuversicht, Hoffnung und Vertrauen in das ärztliche Können des erfahrenen Chefarztes glaubte ich, durch seine Behandlung, bald wieder gesund und schmerzfrei zu werden. Noch ahnte ich nicht, wozu ich nun durch eine schrecklich falsche Diagnose und entsprechend falsche Behandlungsanordnung verurteilt wurde. Es begann mit verschieden Untersuchungen, Anamnese, Blutuntersuchung, Röntgenaufnahmen, Tuberkulin Test u. s. w. veranlasst und durchgeführt von der Stationsärztin. Für die abschließende Diagnose wurden die Ergebnisse der Untersuchungen mit dem Chef besprochen. In meinem Fall lautete seine Diagnose – Iliosacral-Tb –, Behandlung: Lagerung des gesamten Körpers, vom Scheitel bis zur Kniekehle in einem Gips Bett mit einer runden Öffnung im Po-Bereich, zur Verrichtung des Stuhlgangs im Liegen. Für den Urin gab es die übliche Flasche, (Ente) die griffbereit seitlich an das Bett gehängt wurde.
Außer meinen mehr oder weniger starken Schmerzen im unteren Rücken fühlte ich mich gesund und kräftig, war nun zur waagerechten, bewegungslosen Lagerung in dem auf die Haut geformten Gips-Bett verdammt. Außer den Händen, Armen und Füßen war mir die Bewegung verboten.
Im Gesäßbereich des Bettes, genau unter der runden Öffnung der Gipsschale, befand sich eine nur ca. 35 cm breite Matratze, die sich durch die Betätigung eines Hebels absenken ließ. Die Absenkung erfolgte für das Unterschieben der Pfanne für die Verrichtung des Stuhlgangs. Der Darm musste darauf getrimmt werden, dass man morgens um 6.00 Uhr, wenn der Pfleger kam und die Pfanne unter das Gips Bett schob, abdrücken konnte. Mit drei weiteren im Gips-Bett lagernden „Gefangenen“ teilten wir ein Zimmer. Als jüngster Patient des Raumes äußerte ich meinen Gedanken, dass jeder Strafgefangener in Fuhlsbüttel es besser hat als wir hier in Barmbek, denn die können ihre Notdurft auf der Toilette erledigen und dürfen eine Dusche benutzen. Wir dagegen mussten uns mit der Pfanne und der Ente zur Entleerung begnügen und zum Waschen, zur Körperhygiene bekamen wir eine emaillierte Waschschüssel mit Wasser und zwei Waschlappen von der Nachtschwester an das Bett gestellt.
Alle 4 Wochen gab es auf der Station im Pavillon 10 ein aufgeregtes Geschnatter und eine übertriebene Wichtigtuerei bei den Schwestern „Der Chef kommt, heute ist Chefvisite angesagt“. Alle nahmen Haltung an und standen stramm. Ich wurde zur Geduld aufgefordert und mir wurde erklärt, dass ich die Konsolidierung und Einkapselung des Tbc-Herdes im Iliosacral-Gelenk abwarten und mir bewegungslos in der Waagerechten erliegen muss. Zunächst wurde ich zu drei Monaten verschärftem „Liege-Arrest“ im Gips verurteilt. Dann erst kann eine Röntgenkontrolle erfolgen.
Mit mir im Zimmer lagen drei weitere Leidensgenossen, „Motten-Brüder“, die bereits 6 und 9 Monate Liegezeit hinter sich hatten, in einem Nebenraum lag ein junger Landwirt bereits über ein Jahr im Gips Bett und hoffte auf baldige Genesung. Nur langsam begriff ich was mir ev. bevorsteht.
Äußerst gespannt und hoffnungsvoll wartete ich auf das Ergebnis der ersten Röntgenkontrolle nach 3 Monaten „Gipsbetthaft“. Das Urteil des Chefarztes war für mich niederschmetternd wie folgt: „Der Tb-Prozess im IS-Gelenk ist noch nicht ausreichend eingekapselt, er kann erst nach weiteren 3 Monaten Gipsbettlagerung erneut kontrolliert und beurteilt werden.“ Damit war das Urteil für ein weiteres Viertel-Jahr verschärfte Haft ausgesprochen und meine Tränen flossen in das Gips-Bett.
Inzwischen begann der Frühling, durch das geöffnete Fenster konnten wir die mildere Luft einatmen, die Vögel im Krankenhauspark begannen zu zwitschern und die Büsche und Bäume bekamen die ersten Knospen. Dies alles konnten wir mit Hilfe unseres kleinen Rasierspiegels, den wir liegend, über Kopf Richtung Fenster hielten, in kleinen Ausschnitten beobachten.
Das war der herrlich sonnige Sommer des Jahres 1959, wir konnten mit der Hilfe unserer Rasierspiegel das Grün im Park beobachten und es berührte sehr, wenn ab und an eine sommerlich gekleidete Person vorbei ging und für einen Moment in dem Blickfeld unseres Spiegels auftauchte. Mir wurde nun deutlich bewusst, welche Einschränkung der persönlichen Freiheit mir mit dieser katastrophalen Diagnose übergestülpt wurde. In diesem wunderbaren Sommer wurde ich volljährig, das wurde man damals erst nach Vollendung des 21. Lebensjahres.
Das niederschmetternde und deprimierende Geschenk erhielt ich bereits vor meinem Geburtstag, nämlich durch den Halbgott in Weiß, den Chefarzt, der mir nach der Röntgenkontrolle mit knappen Worten von oben herab, erklärte, dass es für eine Aufrichtung noch zu früh wäre und ich mich zunächst noch für weitere 3 Monate gedulden muss, damit das ‚Erreichte‘, durch zu frühe Belastung nicht zerstört wird.
Nun musste ich mich darauf einstellen, dass eine weitere Röntgenkontrolle erst wieder Ende August erfolgen würde. Bis dahin durchstand ich noch einiges unerfreuliches. Durch die lange Liegezeit und zu wenig Flüssigkeitszufuhr stellten sich Nierenkoliken ein, die zunächst als Blinddarmentzündung diagnostiziert wurden. Der Nagel einer Großzehe ist eingewachsen und hat sich entzündet. Statt ihn partiell auszuschneiden hat man in brutaler Manier den gesamten Nagel ausgerissen. Nun nach über 8 Monaten Liegezeit im Gipsbett wurde ich samt Gipsbett mit einer Transportrikscha zur ersehnten Röntgenkontrolle geschoben. Mir fiel auf, dass die Röntgenologen sich wunderten, dass ich noch immer im Gipsbett liege und zum Stillstand verdammt war.
Sie erkannten meine Verzweiflung und sprachen mir Trost und Hoffnung zu, in der Form, dass sie mir sagten, dass ich nach dieser Kontrolle damit rechnen kann, dass ich anschließend wahrscheinlich wieder mobilisiert werde und die Gipslagerung damit abgeschlossen sein wird. Eine große Freude kam in mir auf, die leider nicht lange andauern sollte.
Einige Tage später bei der Chefvisite, der allmächtige Chefarzt mit seinem untertänigen Gefolge erschien und eröffnete mir, dass die Verkapselung im IS-Gelenk leider noch nicht ausreichend stabil ist und für eine Aufrichtung und Mobilisierung nicht reicht. Jedoch wolle er mir helfen und nach einer weiteren Zeit Ruhigstellung die Stabilisierung durch eine operative Maßnahme herbeiführen. Das sollte mit einem Knochenspan aus meinem Schienbein erfolgen.
Das war für mich ein weiterer Rückschlag, ein Schock. Nach Tagen des Grübelns erinnerte ich mich an die Bemerkungen des Röntgenologen und ich zweifelte an der Kompetenz des Chefarztes und an der Diagnose, die er für mich gestellt hat. Ich beantragte bei meinem Kostenträger, der LVA Hamburg, die schnellstmögliche Verlegung in das Seehospital Cuxhaven-Sahlenburg. Von verschiedenen Seiten hatte ich gehört, dass dort u. a. Knochentuberkulose behandelt wird. Leider dauerte die Genehmigung meines Antrages fast ein viertel Jahr, solange musste ich es im AK Barmbek noch aushalten.
Ab diesem Zeitpunkt zeigte sich der Chefarzt derart beleidigt, dass er bei jeder Visite einen Bogen um mein Bett machte, mit der Bemerkung: „Sie haben ja eine Verlegung beantragt.“ Für ihn war ich nun nicht mehr existent. Diese Verhaltensweise bestätigte mich in der Durchsetzung meines Entschlusses zur Verlegung.
Am 26. Nov 1959, auf den Tag genau, hatte ich nun ein ganzes Jahr, waagerecht im Gips liegen müssen und wurde in diesem Zustand liegend, nach Sahlenburg transportiert. Abends gegen 18.00 Uhr wurde ich auf die Station getragen. Später wurde mir berichtet, dass der Stationsarzt, der mich noch nicht sah, vor seinem Feierabend die mitgeschickten Unterlagen angesehen hat und bei der Betrachtung der Röntgenbilder spontan sagte: „Das ist niemals eine IS-TB, das ist ein beginnender Morbus Bechterew.“
Am nächsten Morgen erfolgte die Aufnahmeuntersuchung und mir wurde vorsichtig die Revision der Diagnose beigebracht und das Gipsbett sofort entfernt und entsorgt. Ich begriff noch nicht umfänglich wie mir geschah, ich durfte mich plötzlich im Bett aufsetzen, auch die Beine kurz baumeln lassen. Unglaublich das neue Körpergefühl, alles war schwer, die Schwerkraft zog nach unten. Kurzes vor dem Bett stehen mit Hilfe und gut festhalten machten Körper und Kreislauf nur für einen Augenblick mit. Ich begriff alles nur sehr langsam, das Bewusstsein für die so plötzlich neue, entgegengesetzte Situation kam langsam.
Ich wusste in keiner Weise, was ein Bechterew ist und was es bedeutet damit erkrankt zu sein, deshalb freute ich mich riesig über die neue Situation. Wunderte mich allerdings, dass der Arzt meine Freude nicht so teilte. Von jetzt an kam ich in das Leben zurück. Die Rehabilitation mit Mobilisation durch gezielte Physiotherapie war hervorragend. Ich erlernte das Gehen und Laufen wieder neu. Allerdings benötigte ich insgesamt noch 3 Monate, bis ich so weit war, dass ich arbeitsfähig wurde, meinen Beruf aufnehmen konnte und ein Fachhochschulstudium absolvieren konnte.
Nun schaue ich auf eine lange, sehr schmerzhaft verlaufene Bechterew-Karriere zurück, mit vielfältigem Auf und Ab, die nacherzählt ein Buch füllen würde. Durch die positive Motivation und das Wiederaufstehen nach dem Fallen konnte ich dem Leben bisher immer wieder glückliche Momente abgewinnen.