Selbsthilfe in Bewegung – Impulse für die Weiterentwicklung

 

Von Jasmin Hänel und Prof. Dr. Bernhard Borgetto

 

Selbsthilfe (SH) ist aus der Gesundheitsversorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen nicht mehr wegzudenken. Um die SH stark und zukunftsfähig zu gestalten, gilt es, aktuelle He­raus­forderungen anzugehen, sich der Position der SH bewusst zu werden (Wer sind wir? Wer wollen wir sein?) und SH (neu) mitzugestalten. Die Bewältigung dieser Aufgaben liegt in erster Linie in der Hand der Selbsthilfe­gruppen/-organisationen (SHG/SHO), der einzelnen SH-Aktiven und der Selbsthilfekontakt­stellen (SHK).

Dieser Artikel soll Anregungen zur Weiterentwicklung in der SH geben. Er geht zunächst auf aktuelle He­raus­forderungen ein. Weiterhin wird die SWOT-Analyse vorgestellt – ein mögliches Tool, um die Position der SH zu analysieren. Nachfolgend werden exemplarisch Erkenntnisse aus den Studien zur Vernetzung und Kooperation von Rehabilitation und SH (VERS 2.0) und zur Jugend­arbeit in der SH (JuSe) nach dem Muster der SWOT-Analyse vorgestellt.
 

Herausforderungen der Selbsthilfe

Demographischer Wandel und „bunte“ Gesellschaft 

Der demographische Wandel und die zunehmend „bunter“ werdende Gesellschaft betrifft das gesamte gesellschaftliche Leben. Durch die steigende Lebenserwartung wächst der Anteil älterer Menschen und der Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen in der Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es weniger junge Menschen (Hundertmark-Mayser und Helms 2019; Schmidt-Wiborg 2021). Zudem gibt es eine größere kulturelle Vielfalt in der Gesellschaft. Etwa ein Viertel der in Deutschland lebenden Menschen haben z. B. einen Migrationshintergrund (Schmidt-Wiborg 2021). Vor diesen Entwicklungen bestehen die Herausforderungen der SH darin, mehr themen- und zielgruppen­spezifische Angebote zu schaffen. Durch den abnehmenden Anteil junger Menschen entstehen jedoch gleichzeitig Probleme bei der Mitgliedergewinnung oder bei der Rekrutierung von Nachwuchs für Leitungsaufgaben (Hundertmark-Mayser und Helms 2019; Schmidt-Wiborg 2021). Personen (in der SH häufig Ehrenamtliche) zu finden, die eine entsprechende Aktivitäts- und Angebotsvielfalt mitgestalten, erweist sich als schwierig.


Abnahme des ehrenamtlichen Engagements 

Das aufgezeigte Problem des Nachwuchses in der SH wird auch dadurch verstärkt, dass eine Abnahme des ehrenamtlichen Engagements (v. a. bei jungen Menschen) zu verzeichnen ist. Gründe werden in der erwarteten hohen Flexibilität im Arbeits- und Familienleben gesehen (Hundertmark-Mayser und Helms 2019). Die Vereinbarkeit von Arbeit, Familie und (regelmäßigen) SH-Aktivitäten im Ehrenamt gestaltet sich daher v. a. bei jungen Menschen als schwierig (Schmidt-Wiborg 2021; Hundertmark-Mayser und Helms 2019).
 

Image der Selbsthilfe 

Weiterhin nehmen v. a. junge Menschen die SH als „angestaubt“ wahr und bringen diese vorrangig mit Alkohol- und Suchterkrankungen in Verbindung (Hundertmark-Mayser und Helms 2019).
 

Digitalisierung und Online-Selbsthilfe

Potenziale liegen in der Digitalisierung und der Etablierung von Online-SH, welche die Nutzung digitaler Medien (z. B. Foren, Chats, Videokonferenzen) bei SH-Aktivitäten umfasst (Borgetto et al. 2022). Die Nutzung digitaler Medien ist im Alltag weit verbreitet (Schmidt-Wiborg 2021). Durch Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pandemie hat die Online-SH zudem einen Entwicklungsschub erfahren (Wünsche et al. 2022). Ein Vorteil von Online-SH ist, dass eine überregionale Vernetzung erleichtert wird (Hundertmark-Mayser und Helms 2019). Darüber hinaus können Online-Angebote zeitunabhängig wahrgenommen werden (z. B. in Foren) (Borgetto et al. 2022). Risiken ergeben sich in Bezug auf den Schutz personenbezogener und sensibler Daten (Hundertmark-Mayser und Helms 2019; Wünsche et al. 2022). Insgesamt wird die Online-SH als „zukunftsorientiert“ angesehen (Borgetto et al. 2022).


Professionalisierung der Selbsthilfe 

Die SH hat sich zu einem anerkannten und integralen Bestandteil der Gesundheitsversorgung in Deutschland entwickelt (Hundertmark-Mayser und Helms 2019; Borgetto et al. 2022; Borgetto et al. 2020). Die finanzielle Förderung der SH durch Krankenkassen ist gesetzlich festgeschrieben. Die Kooperation mit der SH stellt für Gesundheitseinrichtungen ein Qualitätskriterium dar. Darüber hinaus bestehen für die SH politische Beteiligungsmöglichkeiten, wie z. B. im Gemeinsamen Bundesausschuss (Borgetto et al. 2022; Borgetto et al. 2020). Diese zunächst positiven Entwicklungen bergen auch Risiken in Bezug auf eine Selbst-Entfremdung und eine Überforderung der SH (Borgetto et al. 2020).


SWOT-Analyse

Die SWOT-Analyse stammt ursprünglich aus den Wirtschaftswissenschaften und ist ein Tool für Unternehmen und Organisationen, um interne Stärken („Strength“) und Schwächen („Weaknesses“) im Kontext von externen Chancen („Opportunities“) und Risiken („Threats“) zu analysieren (Betz 2014). Sie eignet sich auch, um die Position der SH zu analysieren (Anregungen in Tabelle 1). Nach der Analyse von Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken sind die Fragen zu beantworten, wie Stärken eingesetzt werden können, um Chancen zu nutzen und um Risiken zu vermeiden, und wie Schwächen abgebaut werden können, um Chancen zu nutzen und um Risiken zu vermeiden (Betz 2014).
 

Tabelle 1: Fragestellungen und mögliche Analysekriterien für eine SWOT-Analyse in der Selbsthilfe

Fragen

Beispiele für Analysekriterien

Interne Analyse:

  • Welche Stärken hat unsere SHG/SHO?
  • Welche Schwächen hat unsere SHG/SHO?
  • Mitgliederstruktur (Anzahl, Alter etc.)/personelle Ressourcen
  • Finanzielle Ressourcen
  • Bisherige/aktuelle SH-Arbeit und Angebote
  • Möglichkeiten und Expertise in der Nutzung digitaler Medien
  • Kooperationen (mit Gesundheitsdienstleister*innen, Gesundheits- und Sozialinstitutionen etc.)

Externe Analyse:

  • Welche Chancen bietet das Umfeld?
  • Welche Risiken kommen aus dem Umfeld auf uns zu?
  • Selbsthilfekontaktstellen
  • Finanzielle Förderungsmöglichkeiten
  • Möglichkeiten in der Nutzung digitaler Medien
  • (potenzielle) Kooperationspartner (Gesundheitsdienstleister*innen, Gesundheits- und Sozialinstitutionen etc.)
  • Politische Beteiligungsmöglichkeiten

 


Studienerkenntnisse: Vernetzung von Rehabilitation und Selbsthilfe (VERS 2.0) und Jugendarbeit in der Selbsthilfe (JuSe)

Zur Analyse der SH-Position allgemein lassen sich auch Erkenntnisse aus der Forschung heranziehen. In Tabelle 2 sind ausgewählte Erkenntnisse aus einer Online-Befragung von Rehabilitationseinrichtungen (n = 101) zur Vernetzung von Rehabilitation und SH (VERS 2.0, Jahr 2020) (Haenel et al. 2023) sowie aus einer Online-Befragung von Mitgliedsverbänden der BAG SELBSTHILFE und deren weiteren Organisationsebenen (n = 40) zur Jugendarbeit in der Selbsthilfe (JuSe, Jahr 2021) dargestellt. 

Zur Vernetzung von Rehabilitation und SH existiert eine frei zugängliche und allgemeinverständliche Broschüre im Internet, die neben einer kurzen Darstellung der VERS 2.0-Studie weitere Erkenntnisse zum Thema aufarbeitet und einen Leitfaden (= Prozessmodell) zum Aufbau, zur Verstetigung und Weiterentwicklung einer Kooperation bietet (Borgetto et al. 2023).

 

Tabelle 2: SWOT-Analyse bzgl. ausgewählter Erkenntnisse aus den Studien zur Vernetzung und Kooperation von Rehabilitation und Selbsthilfe (VERS 2.0 aus 2020) und Jugendarbeit in der Selbsthilfe (JuSe aus 2021)

 

VERS 2.0 (aus 2020)1

JuSe (aus 2021)2

Stärken

¾ der Reha-Einrichtungen hatten Kontakte zur SH

n=25 (von n=40) hatten spezielle Angebote/ Aktivitäten für junge SH-Aktive (regelmäßig: SHG und professionelle Beratung; gelegentlich: Seminare/Workshops)


n=20 (von n=25) gaben jungen SH-Aktiven Möglichkeiten, selbstständig Verantwortung zu übernehmen

Schwächen

Virtuelle SH-Angebote wurden selten genutzt oder an Rehabilitand*innen vermittelt

Die Neugewinnung junger SH-Aktiver bewerteten n=9 Organisationen (von n=22) auf einer Skala von „sehr erfolgreich“ (=1) bis „überhaupt nicht erfolgreich“ (=5) mit „4“


n=9 (von n=25) gelingt es nicht, junge Menschen langfristig zu SH-Aktivitäten zu motivieren

Chancen

Positive und aufgeschlossene Haltung von Reha-Einrichtungen gegenüber der SH


Wunsch von Reha-Einrichtungen nach einer unabhängigen Anlaufstelle zur Unterstützung in der Kooperation mit der SH (n=58); Chance: Selbsthilfekontaktstellen können unterstützen.

 „Netzwerkbildung/ Teil einer Gruppe sein (Peergroup)“, „Spaßerleben“ und „Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung“ werden als Hauptmotive junger Menschen, um in der SH aktiv zu werden, gesehen.

Risiken

z. T. Informationslücken (z. B. scheint der Wert von Erfahrungswissen in der SH von Reha-Einrichtungen wenig wahrgenommen zu werden)
 

In Reha-Einrichtungen sind die Ressourcen für eine Kooperation mit der SH begrenzt. Für n=47 (von n=75) Einrichtungen war die Kooperation keine Entlastung für das Personal.

Jene Organisationen, die nicht in der Jugendarbeit aktiv waren (n=6), gaben als häufigen Grund an, dass Kontakten zu Einrichtungen und Begegnungsstätten potenzieller junger SH-Aktiver fehlen (n=4).

 

1 Studienverantwortliche Institution: Institut für gesundheits- und sozialwissenschaftliche Forschung und Beratung e.V. (IFB); Kooperationspartner: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG SELBSTHILFE), Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK); Gefördert durch: Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV); Mit freundlicher Unterstützung von: Netzwerk Selbsthilfefreundlichkeit und Patientenorientierung im Gesundheitswesen (SPiG) 2  Studienverantwortliche Institution: IFB; Kooperationspartner: BAG SELBSTHILFE, HAWK


Kontakt

Jasmin Hänel (M.Sc.)
HAWK – Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst
Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit
Goschentor 1
31134 Hildesheim

E-Mail: jasmin.haenel(at)hawk.de

 

Literaturverzeichnis

Betz, Barbara (2014): Praxis-Management für Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden. Praxen wirtschaftlich erfolgreich führen. Berlin, Heidelberg: Springer.

Borgetto, Bernhard; Brinck, Ann-Kathrina; Hänel, Jasmin; Wittmar, Silke: Vernetzung und Kooperation von Rehabilitation und Selbsthilfe. Broschüre zur Vernetzung von Rehabilitation und Selbsthilfe. Hg. v. Bernhard Borgetto, Ann-Kathrina Brinck, Jasmin Hänel und Silke Wittmar. Hier online verfügbar, zuletzt geprüft am 22.06.2023.

Borgetto, Bernhard; Wuensche, Isabel; Wittmar, Silke (2022): Gemeinschaftliche Gesundheitsselbsthilfe. In: Robin Haring (Hg.): Gesundheitswissenschaften. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg (Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit), S. 323–334.

Borgetto, Bernhard; Wünsche, Isabel; Schwinn, Silke; Pfingsten, Andrea (2020): Selbsthilfe. In: Oliver Razum und Petra Kolip (Hg.): Handbuch Gesundheitswissenschaften. 7., überarbeitete Auflage. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 932–952.

Haenel, Jasmin; Wittmar, Silke; Wuensche, Isabel; Borgetto, Bernhard (2023): Deutschlandweite Befragung zur Vernetzung und Kooperation von Rehabilitation und Selbsthilfe (VERS 2.0): Ein Überblick über Meinungen, Kontakte und Kooperationen von Rehabilitationseinrichtungen in Bezug auf Selbsthilfe. In: Die Rehabilitation 62 (1), S. 13–21. DOI: 10.1055/a-1710-0964.

Hundertmark-Mayser, Jutta; Helms, Ursula (2019): Unterstützung von Selbsthilfegruppen – gesellschaftliche Herausforderungen für Selbsthilfekontaktstellen und aktuelle Ansätze. In: Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 62 (1), S. 32–39. DOI: 10.1007/s00103-018-2845-5.

Schmidt-Wiborg, Petra (2021): Demographischer Wandel: Ehrenamt und freiwilliges Engagement in der Selbsthilfe neu gestalten. In: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V. (Hg.): Selbsthilfegruppenjahrbuch 2021. Gießen, S. 89–90.

Wünsche, I.; Hänel, J.; Wittmar, S.; Borgetto, B. (2022): Potenziale und Grenzen virtueller Selbsthilfe – Selbsthilfeaktivitäten unter dem Einfluss der Coronaschutzmaßnahmen. In: internistische praxis 64 (4), S. 688–699.