
Erfahrungsbericht
Walter Herpich
Alle Erfahrungsberichte71 Jahre lang (juvenil begonnener) Morbus Bechterew
Im Sommer 1951 erkrankte ich im Alter von 11 Jahren an der „roten Ruhr“ (blutiger Durchfall). Das Schlimmste war für mich neben dem Durchfall, dass ich nicht auf die Straße zu meinen Freunden durfte. So erzählte es mir meine Mutter.
Etwa ein halbes Jahr später war plötzlich mein linkes Knie geschwollen und stark schmerzhaft. In meiner Heimatstadt Hof/Saale im Behelfskrankenhaus in der Hofer Kaserne wurde ich von Prof. Marx aus der Schweiz behandelt. 6 Monate herrschte große Ratlosigkeit. Für mich war das Schlimmste meine erste Kniepunktion. Ich sehe heute noch den großen Glaskolben mit einer Nadel so dick wie eine Stricknadel in der Hand von Prof. Marx. Ohne Betäubung ging es los. Mein Schreien war in der ganzen Kaserne zu hören.
Bald darauf wurde ich mit der Diagnose „Knochen-TBC“ in ein TBC-Sanatorium überwiesen, wo ich fast 3 Monate lang blieb. Dann kam die erste Knie-OP – mit einer Äther-Narkose. Hinterher habe ich kräftig gekübelt. Der Befund: Kniegelenkentzündung. Das war der Beginn meines Morbus Bechterew, wie mir später vom Rheumatologen bestätigt wurde.
Mein Schuljahr musste ich dann wegen des langen Krankenstandes wiederholen. Mit 15 Jahren begann ich eine Lehre zum Elektriker. Immer wieder plagten mich Hüft- und Fersenschmerzen sowie Harnwegs-Entzündungen. Mit 20 Jahren kamen starke Entzündungen beider Vorfüße dazu, ich konnte kaum noch auftreten. Es folgten weitere Krankenhaus-Aufenthalte, kurz vor Silvester 1961 dann erstmals im Rheumakrankenhaus in Bad Abbach. Meine Volljährigkeit (damals mit 21 Jahren) werde ich nie vergessen: Um Mitternacht weckte die Nachtschwester mich und meine Zimmerkollegen (6-Bett-Zimmer). Es wurde auf den Jubilar angestoßen und ordentlich gefeiert, zum Glück waren ja die Betten da.
Mit 29 Jahren kam meine erste Regenbogenhaut-Entzündung, im rechten Auge, die mich über 3 Monate lang plagte. 4 Wochen davon verbrachte ich in der Augenklinik in Erlangen. Mit meinem angeborenen Iris-Kolobom war ich darüber hinaus ein begehrtes Objekt bei den Studenten im Hörsaal. Die Augenentzündungen kehrten regelmäßig – teilweise auch auf beiden Augen gleichzeitig – wieder. Mit 28/29 Jahren begannen nächtliche Rückschmerzen und blieben lange Zeit – heute sind die Iliosakralgelenke verlötet.
Wegen Entzündung des rechten Knies war wieder ein langer Krankenhaus-Aufenthalt nötig: Ich schluckte bis zu 10 Tabletten täglich, u.a. Resochin und Amuno. Wegen orthopädischer Diagnose eines Meniskusschadens im rechten Knie dann Meniscus-OP, wenige Monate später Kapselfensterungs-OP, einige Zeit später erneute OP.
Nach meiner dreijährigen Lehre arbeitete ich als Elektriker und später im technischen Kundendienst. Die Schmerzen waren über all die Jahre mein ständiger Begleiter. Da halfen nur Tabletten. 1974 bekam ich bei einem Elektro-Großkonzern eine Anstellung im Büro im Raum Erlangen. Hier konnte ich mich weiterbilden und noch fast 25 Jahre arbeiten.
Mein großes Glück: Ich hatte die Unikliniken Erlangen und die besten Rheumatologen in meiner Nähe. Diese stellten 1978 – nach 17 Jahren Verlauf – die Diagnose Morbus Bechterew, HLAB27-positiv. Im Laufe der Jahre war auch oftmals vom Reiter-Syndrom gesprochen worden.
Nach und nach entzündeten sich beide Sprunggelenke, die Zehengrundgelenke und später auch beide Hand- und Kniegelenke. Es folgten mehrere radioaktive Verödungen der Gelenke (RSO) in der Erlanger Nuklearmedizinischen Klinik.
Besonders schmerzhaft waren die Entzündungen der Kiefergelenke, mit der Folge, dass ich den Mund nur noch 2 bis 3 cm öffnen konnte und Essen nur noch unter Schmerzen möglich war.
Als Folge der vielen Entzündungen, Ergüsse, Punktionen, Operationen und Gelenkinnenhaut-Entfernungen der Knie waren dann die Gelenkflächen im rechten Knie zerstört. Das Laufen war sehr schmerzhaft. In der Uniklinik Erlangen wollte man eine Achskorrektur vornehmen oder das Knie versteifen. Schlussendlich entschied ich mich – nach Einholung weiterer Experten-Urteile – für die Implantation einer Schlittenprothese im rechten Knie in der Endo-Klinik in Hamburg. Die Entzündungen kamen zurück, eine erneute Synovektomie (= Verödung der Synovia, der Gelenkinnenhaut) war nötig, danach die sehr schmerzhafte Mobilisierung (Beugung des Knies, um ein Verkleben zu verhindern). Diverse weitere Synovektomien verschiedener Gelenke wurden notwendig, teils operativ, teils mit dem Mittel Varicocid, teils radioaktiv, außerdem eine Vorfuß-Operation.
Diverse Kuren und Reha-Aufenthalte habe ich über die Jahre absolviert: in Bad Füssing, Bad Schussenried, Bad Abbach, Bad Aibling, Oberammergau. Hier machte ich die Erfahrung, dass Wärme bei mir Schübe auslöst und Kältetherapie die Schmerzen lindert. Bei einer dieser Rehas brach die Schlittenprothese, eine Vollprothese musste implantiert werden. Es sollte nicht die letzte OP gewesen sein:
Viele Jahre später kam der Super-GAU: eine schwere eitrige Entzündung in diesem Knie, mein Gesamtbefinden war sehr schlecht, mit nächtlichen Schweißattacken und 10 kg Gewichtsabnahme. So schlapp und müde habe ich mich noch nie gefühlt. Ich verlor viel an Muskelmasse, die ich durch viel Training wieder aufbauen konnte. Diverse Antibiotika, Behandlung auf der Intensivstation und eine Notfall-OP waren erforderlich. Die Prothese musste entfernt werden und schließlich wurde in der Endo-Klinik eine Spezial-Knie-Prothese eingesetzt – mit Erfolg.
Und wie war die medikamentöse Therapie des M. Bechterew? Die Schmerzmedikamente waren zuvor mehrfach gewechselt worden, z.B. auf das magenschonende Celebrex, und wurden immer wieder durch Cortison und durch verschiedene Basis-Therapien ergänzt, die jeweils wieder abgesetzt werden mussten, wie zuvor schon Resochin, dann Gold-Spritzen, dann Leflunomid (Arava), dann MTX. Auch hochdosiertes Vitamin E, von der Kasse bezahlt, kam hinzu. Inzwischen war durch das Cortison ein grauer Star entstanden und operiert worden, in späteren Jahren waren erneute Augenoperationen nötig. Außerdem war eine Osteoporose festgestellt worden, Behandlung mit so genannten Bisphosphonaten.
2001 dann, nach einem Krankheitsverlauf von 50 Jahren, bekam ich durch das Glück, in der rheumatologischen Schwerpunkt-Praxis in Erlangen bei Dr. de la Camp betreut zu werden, das Mittel Remicade (Infliximab), welches damals noch gar nicht zugelassen war für Morbus Bechterew, im Rahmen einer Studie als Infusion verabreicht.
So begann am 31.05.2001 mein zweites Leben. Ich bekam an diesen Tag meine erste Infusion mit 300 mg Remicade. Ich merkte während der Infusion (ich hatte zu dieser Zeit in beiden Knien Ergussbildung) eine Erleichterung in den Gelenken. Nach 3 und dann nach 6 Wochen bekam ich meine 2. und 3. Infusion, später alle 8 Wochen – und so blieb es. Seit der 7. Infusion erhielt ich alle weiteren Infusionen ambulant in der Rheumapraxis – bis zum heutigen Tag (inzwischen mit dem Nachahmer-Mittel Inflectra), lediglich durch eine vorübergehende Phase der Umstellung auf Humira (Adalimumab) und durch die o.g. Knie-Problematik unterbrochen.
Meine Entzündungs-Werte (CRP) sanken enorm. Die Ergussbildung war weg. Was jetzt hervortrat, waren die arthrotischen Schmerzen meiner zerstörten Gelenke. Durch Schuh-Umbau und verschiedene Behandlungen in der Rheumatologischen Orthopädie in Erlangen wurde es mit der Zeit besser. Durch eine Aufbissschiene und Massagen im Mund verbesserten sich langsam meine Kiefergelenkschmerzen und es kam die Zeit, in der ich wieder in einen Apfel beißen konnte. Die Regenbogenhaut-Entzündungen verschwanden mit der Zeit. Auch die Osteoporose ist heute Geschichte. Die Knochendichte baute sich wieder auf. Es sind keine weiteren Medikamente mehr dagegen nötig. Auch meine Magenbeschwerden, der Einnahme der vielen Medikamente geschuldet, bildeten sich zurück.
Dr. de la Camp nannte meine Version des Morbus Bechterew einen juvenilen Morbus Bechterew (juvenil = in der Kindheit/Jugend begonnen). Als im Juli 2012 Dr. de la Camp in den Ruhestand ging, war das für mich wie für viele seiner Patienten ein emotionaler und tränenreicher Abschied. Ich habe ihm sehr viel zu verdanken. Er und Dr. Wendler haben 2001 dafür gesorgt, dass ich in der Uni an einer Studie mit Remicade teilnehmen konnte. Was wichtig ist: Dr. de la Camp hat einen sehr guten Nachfolger gefunden.
Inzwischen war bei mir auch eine Herz-Beteiligung durch den M. Bechterew festgestellt worden: ein AV-Block dritten Grades – mit Atemnot bis hin zu leichten Ohnmachtsanfällen. Ich bekam einen Herzschrittmacher, der in den Folgejahren mehrfach gewechselt werden musste. Beim Wechsel im Jahr 2013 musste die Vene unter dem Schlüsselbein (Vena subclavia) geweitet werden, um die Sonde einzuführen. Bald darauf bekam ich starke Schmerzen im rechten Oberarm. Diagnose Oberarm-Venenthrombose. Paget-von-Schroetter-Syndrom. Wie mir bestätigt wurde, ausgelöst durch die Verengung der Vena Subclavia. Es folgte die sofortige Klinik-Einweisung, Behandlung mit Blutverdünnung (Heparin) und so genannter Thrombolyse, trotzdem noch Teilverschluss der Vene. Der Horror für mich: Ich musste Marcumar-Tabletten einnehmen und in Zukunft ständig Blut-Kontrollen (Quick-Wert) durchführen lassen.
Als ich später im Herzzentrum Erlangen einen Termin bekam und fragte, ob man die neugesetzte Sonde, die ja die Thrombose verursacht hatte, wieder entfernen könne, war die Antwort: Bis zu 2 Monate nach der OP wäre es möglich gewesen, jetzt nur noch mit risikoreichen Eingriff. 2020 dann erneuter Schrittmacherwechsel, diesmal ohne Komplikationen. 2021 (4 Monate nach Corona-Impfung) wieder Probleme mit den Schrittmacher-Batterien bzw. den verbliebenen Sonden. Eigentlich müssten alle vier Sonden entfernt werden. Zurzeit ist eine Sonde stillgelegt und der Schrittmacher auf Sparmodus programmiert. Ich bin nicht mehr ganz so leistungsfähig, aber trotzdem viel in Bewegung.
Jetzt wird mancher sagen: „Das hat doch nichts mit dem Bechterew zu tun.“ Meiner Meinung nach schon: Ohne Bechti hätte ich keine Regenbogenhautentzündung bekommen, hätte keine Kortisontropfen gebraucht, der graue Star mit den Nebenerscheinungen an den Augen hätte sich nicht gebildet und ich hätte nicht die Probleme rund um das Herz bekommen. Durch die vielen Entzündungen, Punktionen und Operationen wurden die Gelenkflächen zerstört. Es war Gelenkersatz mehrfach nötig mit all seinen Folgeerscheinungen. Die vielen verschiedenen Narkosen und das viele „Gift“ (Medikamente), das ich geschluckt habe, die hohe Strahlenbelastung der vielen Röntgenaufnahmen in all den Jahren. Vieles davon wäre mir ohne Bechterew erspart geblieben.
Eines konnte der Bechti mir nicht nehmen. Meine positive Einstellung. Wie hätte ich sonst die ganzen Jahrzehnte all das Erlebte so gut verkraften können?! Mit meiner Art habe ich vielen Mitpatienten bei Kuraufenthalten und in Kliniken helfen und sie aufbauen können. In den vielen Jahren habe ich eine hohe Schmerztoleranz-Grenze erreicht, war immer schnell wieder mobil. Nie hatte ich psychische Probleme – und das ist bis heute so geblieben.
Mein großes Glück war, dass ich den passenden Arbeitgeber hatte, der das alles mitgetragen hat. Wegen meines Krankheitsbildes war ich oft auf Kongressen, bei Ärztefortbildungen und Schulungen bei Rheuma-Assistentinnen eingeladen. Im Hörsaal sagte ein Professor, dass es sich bei mir um einen Bechterew wie aus dem Lehrbuch handele.
Was mir in dieser Zeit das Wichtigste war: Ich habe geheiratet, ein Haus gebaut, einen Sohn gezeugt und einen Baum gepflanzt.
Meine Medikamente heute: Alle 6 Wochen eine Infusion mit 400 mg Inflectra, 15 mg Metex als Bauchspritze 1x wöchentlich, 5 mg Folsäure 1x wöchentlich.
Wie es mir heute mit 83 Jahren geht? A weng krumm bin ich – aber sonst noch gut beinander. Auf fränkisch: baasd scho.